OLYMPIA 2024 | PARIS
Kevric dockt unter dem Radar an der Weltspitze an

Beinahe unbemerkt in der Bilderflut aus dem Palais Omnisport und fast gänzlich unter dem TV-Radar turnte sich eine junge 16-jährige Athletin vom Rekordmeister MTV Stuttgart unter die besten acht Turnerinnen der Welt. Von den 59,131 Punkten der legendären Simone Biles trennten Helen Kevric (54,598) im Mehrkampffinale am Donnerstagabend in Paris zwar rund viereinhalb Punkte. Ein Bereich, wo die Luft immer dünner und das Risiko eines Scheiterns immer höher wird. Doch die wahre Leistung, die Kevric mit ihrem achten Platz bei ihren ersten Olympischen Spielen vollbracht hat, offenbart ohnehin nicht der Blick nach vorne. Es ist der Schulterblick, der die Antwort gibt.

Unter dem Radar der Öffentlichkeit: Kevric dockt im Mehrkampffinale von Paris als Nummer Acht an die Weltspitze an.

Denn auch runde viereinhalb Punkte ist die Distanz groß, die sie an diesem Tag zwischen sich und der zweiten deutschen Mehrkämpferin Sarah Voss gebracht hat. Die erfahrene 24-Jährige vom Bundesligisten TZ DSHS Köln beendete ihren Wettkampf nach vier Geräten 49,999 Zählern am Ende auf Rang 24.

«Ich kann es gar nicht glauben, dass mir hier so ein guter Wettkampf gelungen ist. Ich bin superstolz. In diesem Finale zu turnen, war ein unglaubliches Erlebnis», erklärte Kevric und ergänzte: «Jetzt schnaufe ich erstmal durch und dann noch einmal den Fokus auf den Stufenbarren legen.» Dort, an ihrem Lieblingsgerät, hat Kevric gleich einige der gängigen Höchstschwierigkeiten zu bieten. Eine weitere gute Gelegenheit also, bei den Kampfgerichten zu manifestieren, dass das deutsche Frauenturnen auch in der Ära nach einer Elisabeth Seitz, einer Pauline Schäfer-Betz oder einer Sophie Scheder eine strahlende Zukunft haben könnte. Auch wenn, und so ehrlich muss man sein, aufgrund der hochkarätigen Ausgangswerte der Konkurrentinnen schon einiges zusammenkommen müsste, damit das strahlenden Debüt mit olympischem Metall veredelt werden könnte.

GES/ XXXIII Olympische Sommerspiele Paris, Day06, Artistic Gymnastics, women´s Final all-round competition, 01.08.2024
Gewann ihre sechste olympische Goldmedaille, die insgesamt neunte Medaille bei Olympia: Simone Biles.
GOAT - The Greatest Of All Times

Voll im Fokus der Weltöffentlichkeit dagegen griff Simone Biles nach der glitzernden Kette um ihren Hals. In strahlendem Blau, funkelnd wie der Nil an einem Frühlingsabend, hatte sie da das Werk einer starken Frau, die ihre Anmut, ihre Kraft und ihr Engagement voll und ganz beherrscht, gerade vollendet. Die Kette indes war nicht zufällig gewählt. Sie zeigte eine Ziege. Die Ziege, im englischen «goat», wird in den USA gerne als Symbol für die Allerbesten in der Geschichte ihres Sportart genutzt. The «GOAT» - The Greatest Of All Times eben.

«Einige Leute lieben sie, andere hassen sie. Es ist also das Beste aus beiden Welten», sagte Biles, nachdem sie in der Bercy-Arena nach einem Rückstand ihre Aufholjagd noch erfolgreich vergoldet hatte. Sie tat dies als zweite Frau der Geschichte, die bei Olympischen Spielen zwei Mehrkampf-Goldmedaillen gewann. Und als erste überhaupt, der das bei nicht aufeinander folgenden Spielen gelang.

«Ich habe mir gedacht: Ok, wenn es gut läuft, dann trage ich die Ziegenhalskette. Ich weiß, dass die Leute verrückt danach sein werden», erklärte Biles weiter. «Aber letzten Endes ist es ja auch verrückt, dass ich in der Diskussion um die größten aller Athleten bin. Denn ich persönlich denke, ich bin immer noch einfach nur diese Simone aus Spring, Texas, die gerne Saltos schlägt.»

GES/ XXXIII Olympische Sommerspiele Paris, Day06, Artistic Gymnastics, women´s Final all-round competition, 01.08.2024
GOAT-Kette als Demonstration der Einzigartigkeit: Simone Biles ist nach dem Mehrkampffinale am Gipfel des Turnens angekommen.
Das Beste zum Schluss

Die Goldmedaille vom Donnerstag war ihre sechste olympische Goldmedaille, die insgesamt neunte Medaille bei Sommerspielen. Nur Larisa Latynina aus der ehemaligen Sowjetunion mit neun und Věra Čáslavská aus der ehemaligen Tschechoslowakei mit sieben haben unter den Turnerinnen noch mehr Gold mit nach Hause gebracht. Doch Biles ist nun ebenfalls am Gipfel des Turnens angekommen. Sie ist sogar nicht mehr weit vom höchsten aller Gipfel entfernt.

Und wie alle echten GOATs hob sich auch Biles ihr Bestes für das große Finale auf, wie schon im Teamfinale als letzte Turnerin am Boden. Nach einem untypischen Patzer am Stufenbarren - ihrem schwächsten Gerät - hatte Biles nach den ersten beiden Durchgängen nur auf dem dritten Platz gelegen. Hinter der Brasilianerin Rebeca Andrade und der Algerierin Kaylia Nemour. Und wie alle großen Champions der Geschichte musste Biles gegen eine starke Gegnerin antreten und gegen diese zurückschlagen: Andrade, die amtierende Weltmeisterin am Sprung, hatte im Palais Omnisport zudem eine begeisterte Schar brasilianischer Olympia-Fans in ihrem Rücken, die jeden einzelnen ihrer Schritte bejubelten. An dieser Stelle der Geschichte schien Biles tatsächlich gestresst. Ihre Teamkollegin Sunisa Lee schien dadurch noch mehr gestresst.

«Ich will nicht mehr mit Rebeca konkurrieren, ich bin müde», räumte Biles nach dem Wettkampf freimütig ein. «Sie ist viel zu nah dran. Ich hatte noch nie eine Athletin, die so nah dran war. Und es hat mich definitiv auf die Palme gebracht. Aber es hat die beste Athletin in mir hervorgebracht», sagte sie mit einem Lachen.

Biles ging als Erste auf den Schwebebalken, um die dritte Rotation zu eröffnen - und die GOAT schlug tatsächlich zurück: Ihre geradezu magnetische Schwebebalkenübung brachte sie wieder vor Andrade und die Algerierin Kaylia Nemour. Eine Führung, die sie in einem nervenaufreibenden Showdown am Boden im Stile eines großen Champions ohne Nerven und bombensicherer Akrobatik verteidigte.

GES/ XXXIII Olympische Sommerspiele Paris, Day06, Artistic Gymnastics, women´s Final all-round competition, 01.08.2024
Zwei Olympiasiegerinnen, eine Flagge: Simone Biles und Sunisa Lee feiern eine weitere goldene und eine bronzene Medaille für die Stars & Stripes.
Auch Rebeca Andrade ist müde

Doch auch die Brasilianerin Andrade stellte unter Beweis, dass das GOAT-Gen in ihrem Inneren schlummert. Stoisch, aber gut gelaunt zog sie ihr Ding durch. Und gab so weder Biles Teamgefährtin Sunisa Lee, noch der Italienerin Alice D’Amato und auch nicht der bravourös aufturnenden Algerierin Nemour eine Möglichkeit, sich an ihr vorbeidzudrängeln.

«Es war ein Wettkampf, bei dem ich wirklich ruhig war. Ich war in der Lage, jede Bewegung auszuführen, ich konnte über jede Bewegung nachdenken. Das ist wichtig, um den Körper kontrollieren zu können. Und ich denke, deshalb habe ich dieses Ergebnis erzielt. Ein ausgezeichnetes Ergebnis, ich bin sehr glücklich», strahlte die 25-Jährige aus Guarulhos in der Nähe von São Paulo.

Wie Biles hat auch Andrade das Turnen müde gemacht. Auf die Frage nach ihrer Zukunft, ließ die Turnerin offen, ob sie künftig noch einmal in einem Mehrkampf antreten will. Die dadurch entstehenden Belastungen seien zu hoch, findet sie. Insbesondere für Athleten, die bereits Verletzungen erlitten haben: «Es ist sehr schwierig für mich, den Mehrkampf zu turnen. Ich habe an drei Wettkampftagen alle vier Geräte geturnt, da wird es schon sehr schwer. Und nach meinen Verletzungen ist es noch ein bisschen schwerer geworden. Aber ich denke, für jeden Turner, egal ob er verletzt war oder nicht, ist das sehr schwierig», betonte sie.

Ließ ihre Zukunft im Mehrkampf nach dem Gewinn der Silbermedaille offen: Rebeca Andrade aus Brasilien.

Weder für sie noch für Biles sind die Spiele jedoch beendet. Fünf Turn-Elemente sind nach Biles benannt, doch die 24-Jährige hat noch ein sechstes Übungsteil in petto, das sie im Training bereits gezeigt hat und das bald ebenfalls ihren Namen tragen könnte. Und Andrade? Sie war an Sprung und Boden der GOAT am nächsten. Doch der Schein sportlicher Nähe relativiert sich in solchen Fällen schnell. Fehlten der Brasilianerin am Sprung schon acht Zehntelpunkte in der Schwierigkeit, war es am Boden ein ganzer Punkt.

Sunisa Lee, die Mehrkampfsiegerin von Tokio 2020, holte sich die Bronzemedaille. Die 21-Jährige setzte sich mit 56,465 Punkten gegen die hervorragenden Mehrkampfleistungen der Italienerin Alice D'Amato (56,333) und Kaylia Nemour (55,899) aus Algerien durch - ein physischer und mentaler Erfolg, nachdem schwere gesundheitliche Probleme sie beinahe aus dem Sport verbannt hätten. Lee, die noch vor einem Jahr nicht geglaubt hatte, dass sie es in die US-Mannschaft schaffen würde, zeigte am Donnerstag einen brillanten Wettkampf. Sie begann am Sprung, ihrem schwächsten Gerät, blieb aber am Stufenbarren konzentriert, wo sie dann - mit Ausnahme von Nemour - mit 14,866 Punkten besser war als alle anderen.

Ein Sturzdurchgang bereitete die Bühne für die viertbeste Wertung am Boden (13,666), ein Gesamtergebnis von 56,465 Punkten und Lees fünfte olympische Medaille. Winzige 0,032 Zähler vor D'Amato und 0,566 vor Nemour, die beide in ihren letzten Übungen aus der Bodenfläche traten. Der sechste Platz war für die Kanadierin Elli Black (54,799) die zweite Top-10-Platzierung in einem olympischen Mehrkampf-Finale. Die Olympia-Debütantin Qiu Qiyuan aus China (54,766) wurde Siebte.

GES/ XXXIII Olympische Sommerspiele Paris, Day06, Artistic Gymnastics, women´s Final all-round competition, 01.08.2024
Auch sie kämpfte einen bravourösen Kampf in ihrem ersten olympischen Mehrkampffinale: Die Algerierin Kaylia Nemour.
Schlussakkord in Moll

Was aber, wenn der Jubel von Paris verstummt sein wird und Simone Biles ihre Medaillen weggeräumt hat? Wird sie die Kraft aufbringen, ihre Plattform zu nutzen, um mit noch lauterer Stimme das Turnen grundlegend zu verändern? Wenn ja, wäre das gut für sie. Es wäre sogar großartig für das Turnen. Was aber, wenn sie mit ihrem Mann auf eine einsame Insel ziehen und die nächsten 20 Jahre nur die heiligen Texte der Jedi-Ritter lesen wollte? Auch das wäre gut für sie. Wenngleich weniger großartig für das Turnen. Aber keiner, der nur annähernd bei Verstand ist, würde ihr das verübeln. Denn sie hat sich das Recht bereits mehr als verdient, ihre persönliche Zukunft in der ihr eigenen, meisterlichen Handschrift mit Tinte zu fortzuschreiben.

Event Olympiasieger Silbermedaille Bronzemedaille
Team USA Italien Brasilien
Mehrkampf Simone Biles Rebeca Andrade Sunisa Lee
Sprung Simone Biles Rebeca Andrade Jade Carey
Stufenbarren Kaylia Nemour Qiu Qiyuan Sunisa Lee
Schwebebalken Alice D'Amato Zhou Yaqin Manila Esposito
Boden Rebeca Andrade Simone Biles Ana Bărbosu
Event Olympiasieger Silbermedaille Bronzemedaille
Team Japan China USA
Mehrkampf Shinnosuke Oka Zhang Boheng Xiao Ruoteng
Boden Carlos Adriel Yulo Artem Dolgopyat Jake Jarman
Pauschenpferd Rhys McClenaghan Nariman Kurbanov Stephen Nedoroscik
Ringe Liu Yang Zou Jingyuan Eleftherios Petrounias
Sprung Carlos Adriel Yulo Artur Davtyan Harry Hepworth
Barren Zou Jingyuan Illia Kovtun Oka Shinnosuke
Reck Oka Shinnosuke Angel Barajas Zhang Boheng
Land Turner Club Liga
Armenien Artur Davtyan
Vahagn Davtyan
KTV Obere Lahn
KTV Straubenhardt
2. Bundesliga Nord
1. Bundesliga
Belgien Noah Kuavita Exquisa Oberbayern 2. Bundesliga Süd
Kanada Felix Dolci KTV Straubenhardt 1. Bundesliga
Spanien Nestor Abad
Thierno Diallo
Nicolao Mir
Joel Plata
Rayderlay Zapata
TV Schwäbisch Gmünd-Wetzgau
TuS Vinnhorst
TV Schwäbisch Gmünd-Wetzgau
KTV Straubenhardt
TuS Vinnhorst
1. Bundesliga
1. Bundesliga
1. Bundesliga
1. Bundesliga
1. Bundesliga
Großbritannien Joe Fraser

Ruby Evans
TG Saar II

MTV Stuttgart
3. Bundesliga Süd

1. Bundesliga
Italien Yumin Abbadini
Lorenzo Casali
Mario Macchiati
StTV Singen
StTV Singen
TSG Grünstadt
1. Bundesliga
1. Bundesliga
2. Bundesliga Nord
Kasachstan Milad Karimi TV Schwäbisch Gmünd-Wetzgau 1. Bundesliga
Schweiz Luca Giubellini
Matteo Giubellini
MTV Ludwigsburg
MTV Ludwigsburg
2. Bundesliga Nord
2. Bundesliga Nord
Türkei Arican Ferhat
Adem Asil
Ahmet Önder
TSV Pfuhl
TSV Pfuhl
TuS Vinnhorst
1. Bundesliga
1. Bundesliga
1. Bundesliga
Ukraine Illia Kovtun
Petro Pakhniuk
Oleksander Petrenko
Igor Radivilov
Vladyslav Rozkhov
Nikita Sirosh
Radomyr Stelmakh
Mykola Syniukhin
Oleg Verniaiev
KTV Straubenhardt
Siegerländer KV
TSV Buttenwiesen
SC Cottbus
TuS Vinnhorst II
TSG Backnang
SC Cottbus
TG Saar II
TG Saar
1. Bundesliga
2. Bundesliga Nord
2. Bundesliga Süd
1. Bundesliga
3. Bundesliga Nord
3. Bundesliga Süd
1. Bundesliga
2. Bundesliga Nord
1. Bundesliga
So geht's weiter bei Olympia in Paris

 

Samstag, 3. August

Finale Boden | Männer (15:30 Uhr)
Finale Sprung | Frauen (16:20 Uhr)
Finale Pauschenpferd | Männer (17:15 Uhr)

Sonntag, 4. August

Finale Ringe | Männer (15:00 Uhr)
Finale Stufenbarren | Frauen (15:40 Uhr)
Finale Sprung | Männer (16:20 Uhr)  

Montag, 5. August

Finale Barren | Männer (11:45 Uhr) 
Finale Schwebebalken | Frauen (12:35 Uhr)
Finale Reck | Männer (16:20 Uhr)
Finale Boden | Frauen (14:25 Uhr)

Gingen als die drei besten Turnerinnen der Welt von 2024 in die olympischen Geschichtsbücher ein: Rebeca Andrade (Brasilien), Simone Biles (USA) und Sunisa Lee (ebenfalls USA).
01. August 2024
Nils B. Bohl

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